Modellvorhaben POLKA – Körperliche Aktivität und Bewegung: Nutzerbarrieren und Förderfaktoren im Setting stationäre Pflege
Besondere Merkmale des Modellvorhabens
Das Modellvorhaben POLKA erforscht die Implementierung wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse zur körperlichen Aktivität und Bewegung in das Setting stationäre Pflege. Das Modellvorhaben POLKA verbindet Qualitätssicherung (der Strukturvorgaben, Prozesse und Ergebnisse) mit Professionalisierung (von Bewegungslots*innen und Bewegungsexpert*innen) und weist folgende besondere Merkmale aus:
- Verbindung §§ 20 und 20b SGB V mit § 5 SGB XI
- Verbindung der Handlungsfelder Bewegungsgewohnheiten und Ernährung
- Berücksichtigung der Vorgaben zur digitalen Gesundheitsförderung gem. aktuellem Leitfaden Prävention [1] (IKT, Kapitel 7)
- Hoher Datenfundus im internationalen Vergleich
- Evidenzbasierung der Assessments und Interventionen
- Analyse der Rahmenbedingungen des Settings Pflege
- Analyse der besonderen Nutzerbarriere „Reaktanz“
- Einbindung der Funktion von Lots*innen zur Supervision der Heime
- Begründung der Auswahl der biopsychosozial orientierten Interventionen auf der Basis der Analyse-Ergebnisse
- Adaption der Interventionen an setting-spezifische Rahmenbedingungen
- Berücksichtigung nationaler und internationaler Empfehlungen zur körperlichen Aktivität und Bewegung (WHO, Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung)
- Paradigmenwechsel in der Pflege sowie Betrieblichen Gesundheitsförderung im Setting stationäre Pflege (Short Bouts statt Kursprogramme)
- Erstellung eines Qualitätsmanagementsystems gem. DIN EN ISO 9001:2015 mit Markenschutz
- Vorbereitung einer nachhaltigen bundesweit flächendeckenden Versorgung
- Kommunikation der Ergebnisse (Website POLKA, POLKA-Portal, Fachzeitschriften, Fachkongresse, Social Media)
Weiterführende Erläuterungen zum Modellvorhaben POLKA findet ihr in dem Erklärvideo „Was ist POLKA?“ auf unserer Startseite: https://dvgs.de/de/
Evaluation
Das Modellvorhaben evaluiert die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Steigerung der körperlichen Aktivität in stationären Pflegeeinrichtungen im Hinblick auf die Erreichung der jeweiligen Zielgruppe („Durchdringung“). Überprüft wird die Zielerreichung zur „Steigerung der körperlichen Aktivität und Bewegung in stationären Pflegeeinrichtungen“ sowie „Erhöhung der Anzahl der stationären Pflegeeinrichtungen mit Interventionen zur Steigerung der körperlichen Aktivität der Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen. Pflegebedürftige und Pflegende sollen hingeführt werden zum Selbstmanagement mit dem Ziel an mindestens 5 Tagen in der Woche mindestens 30 Minuten körperlich aktiv zu sein (alternativ: 5 x 3 x 10 Minuten täglich an mindestens 5 Tagen wöchentlich).
Evaluiert werden analoge und digitale Interventionen:
– Pflegebedürftige: Verbesserung der Aufstehfähigkeit / Beinkraft
– Pflegende: Verbesserung der Schrittzahl
– Pflegebedürftige und Pflegende: Sitzzeiten
– Feasability der Interventionen
– Usability
– User Experience
Implementierung trotz COVID-19: individuelle Heimbetreuung
Das Modellvorhaben POLKA startete am 1.7.2019. Ab März 2020 erreichte COVID-19 auch Pflegebedürftige und Pflegende in stationären Pflegeeinrichtungen. Die Implementierung zusätzlicher Interventionen in Pflegeheime ist erschwert:
- erhöhter Aufwand der Hygienemaßnahmen (z.B. bei Durchführung der Assessments)
- Unterbrechungen der Interventionen durch Quarantänemaßnahmen
- Besondere Gefährdung der vulnerablen Zielgruppe Bewohner*innen
- Hohe Belastung der Zielgruppe Mitarbeiter*innen
- Hoher Aufwand innerhalb des Pflegeheimes (z.B. Datenschutzmaßnahmen)
Die zusätzliche Nutzerbarriere wurde gelöst durch eine individualisierte Heimbetreuung durch die POLKA-Lots*innen (1:1-Betreuung). Die flexible Betreuung der Pflegeeinrichtungen führte trotz der Pandemie zu einer Erreichung der am Projekt beteiligten Bewohner*innen sowie zu einer Verdopplung der zum Projektstart intendierten beteiligten Mitarbeiter*innen.
Reaktanz
Die Analyse des Settings stationäre Pflege erfolgte neben Sichtung der nationalen und internationalen Studienlage durch Interviews der Lots*innen.
Sowohl bei den Heimleitungen, Pflegedienstleitungen, Pflegenden und Pflegebedürftigen ist das Thema „fehlende und mangelnde Motivation“ ausgeprägt.
Besonders bei den Pflegekräften ist die Reaktanz für die Durchführung betrieblicher Gesundheitsförderungsmaßnahmen eine kritische Größe. Reaktanz beschreibt den Zustand fehlender Motivation sowie eine reaktive Gegenargumentation zu geplanten Maßnahmen
Im Modellvorhaben POLKA werden Techniken erstellt und erprobt, die sich zur Analyse und Motivationssteigerung in der Gesundheitsförderung eignen (Transtheoretisches Modell). Eine solche differenzierte Betreuung durch besonders geschulte Lots*innen ist aufwändig und untermauert eine notwendige 1:1-Betreuung (pro Heim ein/e Lots*in). Die Lots*innen werden insbesondere geschult zur bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz und zum Qualitätsmanagement.
Paradigmenwechsel in der Gesundheitsförderung im Setting stationäre Pflegeeinrichtungen: Short Bouts
Die positive Wirkung körperlicher Aktivität auf die Gesundheit und das Wohlbefinden sind unumstritten und umfassen 25 Krankheitsbilder und Störungen. Aus diesem Grund wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) explizit zu körperlicher Aktivität bzw. körperlichem Training geraten. Konkret zu 150-300 Minuten moderater Aktivität pro Woche. Die Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (Bundesministerium für Gesundheit 2016) empfehlen 150 Minuten moderater Aktivität pro Woche [2].
Diese 150 Minuten wöchentlicher körperlicher Aktivität an mindestens 5 Tagen können unter Nachweis der Evidenz in kleinere Bewegungseinheiten wie beispielsweise 5×30 Minuten oder 5x3x10Minuten zerlegt werden (LEGO-Prinzip). Im Modellvorhaben POLKA unterscheiden sich kurze Bewegungseinheiten sowohl für Pflegebedürftige als auch Pflegende von
10 Minuten (Short Bouts) moderat anstrengend
1 Minute (Exercise Snacks) hohe Intensität
< 5 Minuten kurze, intensive unregelmäßige Alltagsaktivitäten
Die Analyse der Rahmenbedingungen zur Durchführung körperlicher Aktivität im Setting stationäre Pflege lässt vermuten, dass mehrmalige kurze Bewegungseinheiten wöchentlich anwendungsfreundlicher und (trainings-)wirksamer sind als einmalige wöchentliche längere Bewegungseinheiten (etwa Kursprogramme). Möglicherweise sind Short Bouts durch die damit verbundenen redundanten Botschaften für die jeweilige Zielgruppe auch ein Mittel gegen reaktive Einstellungen.
Interventionen Pflegende: Aktive Pause und 2 analoge Interventionen aus gesamt 4 hybriden Interventionen. Die Interventionsauswahl erfolgt bedarfsangepasst und partizipativ auf der Basis der Assessmentergebnisse aus: Rückengesundheit/Sitzender Lebensstil, Normalgewicht, Entspannung/bewegungsbezogene Achtsamkeit, aktiver Arbeitsweg/Freizeittransfer
+ Game Apfelpflücken (Aufstehfähigkeit und Beinkraft)
Interventionen Pflegebedürftige: Die Interventionsauswahl erfolgt bedarfsangepasst (Assessmentergebnis) und partizipativ für 2 analoge Interventionen aus gesamt 3 analogen Interventionen: Lübecker Modell Bewegungswelten 60/45-Minuten, 30-Minuten, 3×10-Minuten.
§5 SGB V Teilziel 2.2 „Erhöhung der Anzahl der Pflegeeinrichtungen, die ein Konzept zur Förderung der körperlichen Aktivität und Mobilität nachweisen“ muss nachhaltig gestärkt werden (bundesweite flächendeckende Versorgung)
Das Thema „körperliche Aktivität“ ist möglicherweise ein Schlüsselthema für Pflegekassen, um die Umsetzung der Vorgaben des § 5 SGB V in stationäre Pflegeeinrichtungen zu implementieren (etwa die derzeit weniger angebotenen Konzepte zu den Teilzielen Ernährung oder Prävention von Gewalt).
Bei im Jahr 2022 15.380 Pflegeheimen in Deutschland (Quelle Statista) sind die abgebildeten Kennzahlenerreichungen allerdings deutlich ausbaufähig– das betrifft insbesondere die kleineren Pflegekassen.
Die Ergebnisse der Wissenschaftlichen Evaluation der präventiven Leistungen der Pflegekassen nach § 5 SGB V (Prognos) legen nahe, dass körperliche Aktivität eine Schlüsselrolle zu Erreichung weiterer Teilziele im Setting stationäre Pflege hat (vgl. Studienlage, Effekte zur Verbesserung kognitiver Ressourcen sowie Unterstützung des Teilziels Ernährung).
Diese Tatsache in Kombination mit der schwierigen Situation der Pflegekassen, nichtaktive Heime zum § 5 SGB V zu sensibilisieren und zu motivieren, könnte ein Hinweis sein, dass das Thema körperliche Aktivität hier Initialeffekte haben könnte.
An dieser Stelle sind gemäß Gesetzestext Maßnahmen zur Mobilität zu trennen von Maßnahmen zur Erreichung einer Verbesserung der körperlichen Aktivität. Allerdings unterstreicht diese Differenzierung die Schlüsselrolle der körperlichen Aktivität in Pflegeeinrichtungen: eine Verbesserung der körperlichen Aktivität wird immer auch zu einer Verbesserung der Mobilität der Pflegebedürftigen führen.
Das Modellvorhaben POLKA und dessen besondere Merkmale (insbesondere durch das Handlungsfeld an sich wie auch durch die Rolle der Lots*innen) können die Schaffung der Rahmenbedingungen der Umsetzung präventiver Angebote für Pflegekassen unterstützen.
Der Blog entspringt dem Artikel „Modellvorhaben POLKA“ aus der B&G 5/23. Den gesamten Beitrag finden Sie hier: https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/abstract/10.1055/a-2152-4272
Weitere Infos zum Modellvorhaben POLKA gibt es auf unserem POLKA-Portal
Literatur
[1] GKV-Spitzenverband. Leitfaden Prävention. Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V zur Umsetzung der §§ 20,20a und 20b SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 21. Dezember 2022 (Dezember 2022). Im Internet: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/praevention__selbsthilfe__beratung/praevention/praevention_leitfaden/Leitfaden_Pravention_Akt_03-2023_barrierefrei.pdf; Stand: 26.04.2023
[2] Rütten A, Pfeifer K. Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (2016). Im Internet: https://www.sport.fau.de/files/2016/05/Nationale-Empfehlungen-f%C3%BCr-Bewegung-und-Bewegungsf%C3%B6rderung-2016.pdf; Stand: 26.04.2023