DVGS Blog

Blogreihe: Vier Axiome der Bewegungsförderung und Bewegungstherapie – Axiom 1

Der Mensch ist lebenslang auf körperliche Aktivität angewiesen

Wie verbinden wir ein hohes Lebensalter mit möglichst hoher Lebensqualität? Im Zusammenspiel von Genen, Umweltbedingungen und individuellem Lebensstil gewinnt der letzte Faktor immer mehr an Bedeutung. Movement & Fitness, hat eindeutig eine übergeordnete Bedeutung. Körperliche Aktivität begünstigt den Schlaf, Stressmanagement, soziale Interaktion und beeinflusst die kognitive Leitungsfähigkeit. Umgekehrt kann ich mich nicht oder nur begrenzt fit schlafen und auch nicht fit denken. Auch lässt sich die körperliche Fitness nicht durch soziale Interaktion verbessern. Eigentlich schade, aber die Evidenz spricht eine klare Sprache.

Die gesundheitswirksame adaptive Kraft der körperlichen Aktivität macht sie zu einem übergeordneten Lebensstilfaktor. Diese Erkenntnis sollte auch dazu führen, innerhalb des Versorgungssystems die Bewegungsförderung zukünftig besser zu integrieren.

Begründet wird dieses erste Axiom durch drei Perspektiven:

  • Evolution
  • Wirkmechanismen
  • Evidenz

Evolution

Bei unseren Vorfahren war der Umfang der notwendigen körperlichen Aktivität so groß, dass solche Anforderungen den Bauplan und die Physiologie des Menschen auch heute noch bestimmen. Auch die medizinisch – biologische Begründung dafür ist alles andere als neu. Bereits 1895 formulierte der deutsche Anatom Wilhelm Roux die „Reizstufenregel“. Danach bestimmt die Belastung die Leistungsfähigkeit der einzelnen biologischen Systeme und damit des Gesamtorganismus. Dies gilt grundsätzlich für alle Lebensphasen, wobei es erhebliche Varianz durch Alterseinflüsse gibt, was die Wirkung von Trainingsreizen angeht.

Wirkmechanismen

Die daraus abgeleiteten Regeln bilden die Grundlage der Trainingslehre. Während dies am Beispiel der Muskulatur plastisch und gut nachvollziehbar ist, wissen wir inzwischen weitaus mehr über die durch körperliche Aktivität gesetzten Reize und Stimulationen für eine Vielzahl von gesundheitsrelevanten physiologischen Prozessen [1-5].  Während die Effekte der körperlichen Aktivität auf Gesundheit und Funktion seit Generationen bekannt sind [6], hat die Erforschung der indirekten Auswirkungen erst nach der Jahrtausendwende so richtig Fahrt aufgenommen. Die Entdeckung, dass die Muskulatur weitaus mehr leistet, als für Haltung, Aussehen und Bewegung zu sorgen, begründet die gesundheitswirksame adaptive Power der körperlichen Aktivität. So zeigten Studien, dass auch andere Organe und Gewebetypen in Abhängigkeit von körperlicher Aktivität gesundheitlich relevante Eiweiße produzieren. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die körperliche Aktivität bei der Erneuerung der Zellen eine zentrale Rolle spielt. Diese Trainingswirkungen sind für die Muskulatur, die Knochen und andere Gewebetypen gut untersucht. Aktuelle Forschung zeigt, dass “physical exercise“ diesen Prozess der Differenzierung und der funktionellen Einbettung (“homing“) wesentlich verbessert sowie die Vernichtung unbrauchbarer seneszenter Zellen optimiert [7, 8, 9]. Wir wissen noch wenig darüber, wie umfassend dieser „Transformationsstimulus“ ist [1]. Von allen der eingangs genannten “Lifestyle Medicine pillars“ hat aber v. a. körperliche Aktivität signifikanten Einfluss auf diesen Prozess und qualifiziert sich auch aus dieser Perspektive als übergeordneter Lebensstilfaktor.

Evidenz

  • A systematic review of the evidence for Canada’s Physical Activity Guidelines for Adults [10].
    Als eines der ersten Länder überhaupt veröffentlichte Kanada Physical Activity Guidelines for Adults. Diese entstanden auf der Basis einer Analyse der Evidenz. Sehr ausführlich und nur etwas für den wahren Fan, umfasst 220 Seiten und listet nach einer kurzen Zusammenfassung alle integrierten Studien auf.
  • Exercise as medicine–evidence for prescribing exercise as therapy in 26 different chronic diseases [11].
    Eine deutlich besser komprimierte Zusammenstellung, nutzt als Ordnungsprinzip die epidemiologisch bedeutsamen chronischen Erkrankungen. Auch heute noch, fast 10 Jahre nach der Veröffentlichung, als erster guter Überblick geeignet.
  • Health benefits of physical activity: a systematic review of current systematic reviews [12]Diese Zusammenstellung steht für eine deutliche Weiterentwicklung. Die „sportlichen Wurzeln“ der Bewegungsförderung werden gestutzt, die Hinwendung zu den gesundheitlich relevanten Effekten der Alltagsbewegung dagegen betont: “They emphasize that clinically relevant health benefits can be accrued by simply becoming more physically active“ [12]

Die gesamte Evidenz finden Sie in dem Beitrag „Bewegungstherapie 2.0 – Vier Axiome zur Begründung“, der in der kommenden B&G erscheinen wird.

Hier geht es zu den anderen Teilen der Blogreihe:

Übersicht

Axiom 2

Axiom 3

Axiom 4

Literatur:

[1] Huber, G. (2022). Bewegungstherapie 2.0. B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport, 38(06), 247-253.

[2] Stanford. Lifestyle Medicine. Im Internet: https://longevity.stanford.edu/lifestyle/lifestyle-pillars/; Stand: 14.01.2025

[3] Dobzhansky Th. On species and races of living and fossil man. In: American Journal of Physical Anthropology 1944; 2(3): 251–265.

[4] Fiuza-Luces C, Garatachea N, Berger N A et al. Exercise is the real polypill. Physiology 2013; 28(5): 330-358.

[5] Fiuza-Luces C, Santos-Lozano A, Joyner M et al. Exercise benefits in cardiovascular disease: beyond attenuation of traditional risk factors. Nature Reviews Cardiology 2018; 15(12): 731-743.

[6] Pedersen B K. The physiology of optimizing health with a focus on exercise as medicine. Annual review of physiology 2019; 81(1): 607-627.

[7] Magliulo L, Bondi D, Pini N et al. The wonder exerkines—novel insights: a critical state-of-the-art review. Molecular and Cellular Biochemistry 2021: 1-9.

[8] Bourzac C, Bensidhoum M, Pallu S et al. , & Portier, H. (2019). Use of adult mesenchymal stromal cells in tissue repair: Impact of physical exercise. American Journal of Physiology-Cell Physiology 2019; 317(4): 642-654.

[9] Smith J K. Exercise as an adjuvant to cartilage regeneration therapy. International Journal of Molecular Sciences 2020; 21(24): 9471.

[10] Warburton D E, Charlesworth S, Ivey A et al. A systematic review of the evidence for Canada’s Physical Activity Guidelines for Adults. International journal of behavioral nutrition and physical activity 2010; 7: 1-220.

[11] Pedersen B K, Saltin B. Exercise as medicine–evidence for prescribing exercise as therapy in 26 different chronic diseases. Scandinavian journal of medicine & science in sports 2015; 25: 1-72. [12]Warburton D E, Bredin S S. Health benefits of physical activity: a systematic review of current systematic reviews. Current opinion in cardiology 2017; 32(5): 541-556