„Vergesst den Schnickschnack“ – Bewegt euch mehr, das tut dem Rücken gut!
„Tatort Wirbelsäule“, so betitelte die Wochenzeitung DIE ZEIT jüngst ein Interview mit Ärzten [1]. Thema, wie könnte es anders sein: Rückenschmerzen. Für das Interview wurden drei Ärzte verschiedener Fachrichtungen herangezogen: Ein Orthopäde, eine Psychosomatikerin und ein Chirurg. Die Interviewerinnen haben das Gespräch anonymisiert, wohl mit dem Vorsatz, dass umso offener gesprochen wird.
Kernthema des Interviews sind Mängel in der Rückenschmerzversorgung. Unter anderem wird angesprochen, dass oft zu leichtfertig operiert wird, bildgebende Diagnostik häufig überbewertet wird und dass multidisziplinäre Einschätzung benötigt wird.
Operation, wenn auch Krafttraining geholfen hätte…
Natürlich kommen auch Bewegung und körperliches Training zur Sprache. So gibt der Chirurg z. B. zu: „Sicher werden sehr viele Menschen operiert, denen eine Stabilisierung und Stärkung der Muskulatur genauso gut, wenn nicht sogar besser geholfen hätte“ [1]. Der Orthopäde empfiehlt, Patienten in Bezug auf Versteifungsoperationen zu sagen: „Du bist hinterher nicht völlig schmerzfrei, du musst auch trainieren, dann sei clever, und mach es vorher, dann schaffen wir’s vielleicht ohne OP. Dann hast du auch kein Risiko durch die Narkose oder für Blutungen und Infektionen“ [1].
Körperliches Training hilft gegen Rückenschmerzen, hat wenig Nebenwirkungen (dafür positive!), und kann evtl. so wirken, dass keine Operation nötig wird. Aber neu ist diese Erkenntnis nicht, oder? 1948 schrieb Dr. Hans Kraus im New York State Journal of Mecicine unter dem Titel „The role of therapeutic exercises in the treatment of low back pain“: „Es ist von höchster Wichtigkeit, dem Patienten ein begrenztes, aber gut supervidiertes Trainingsprogramm zu geben“ ([2], S. 1524). Und weiter: „(…) wenn es nicht regelmäßig mindestens 2 bis 3 mal pro Woche durchgeführt wird und Heimübungen folgen, können keine Ergebnisse erwartet werden“ ([2], S. 1524).
Natürlich sind Medizin und Wissenschaft heute weiter, als in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Es ist eine Zeit der Hightechmedizin, welche unzählige Vorteile mit sich gebracht hat. Die „Rückenschmerzepidemie“ konnte aber nicht gelöst werden. Die Hightechmedizin ist hier sogar teilweise ein Teil des Problems. Dass so viel operiert wird, erklärt z. B. der Chirurg im ZEIT-Interview so: „Die Eingriffe nehmen auch deshalb zu, weil wir heute schonender operieren und mehr machen können“ [1].
Bewegung und Training beugen vor, Rückengurte und Ergonomie nicht!
Bewegung und körperliches Training wären ein passendes Mittel gegen die Rückenschmerzepidemie. In einer jüngst veröffentlichten Übersichtsarbeit heißt es, dass körperliches Training alleine, oder in Kombination mit Schulung, das Risiko für Rückenschmerzen und Arbeitsunfähigkeit senken kann, während Schulung alleine, Rückengurte, Schuheinlagen und Ergonomie nicht vorbeugend gegenüber Rückenschmerzen wirken [3]. Das Fazit kann lauten: „Vergesst den Schnickschnack: Körperliches Training wirkt am besten gegen Rückenschmerzen“ [4]. Auch zur Behandlung bei subakuten/chronischen Rückenschmerzen soll Bewegungstherapie als „primäre Behandlung“ verwendet werden, geht es nach der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz ([5], S. 26).
Nichts als Hindernisse: Zu wenig Bewegung gegen Rückenschmerz
Aber: Auch Bewegung und körperliches Training haben die Rückenschmerzepidemie nicht entscheidend eingedämmt. Kein Wunder, denn vieles spricht dafür, dass es schlicht zu selten eingesetzt wird. „Formale Anweisung zu körperlichem Training nach einer Rückenschmerzepisode wird von Ärzten nicht üblicherweise verschrieben“ klagen zwei Forscher in einem Kommentar für die renommierte Fachzeitschrift JAMA Internal Medicine ([6], S. 208). Sie führen eine Studie an, laut der weniger als die Hälfte einer befragten Gruppe von Rücken- und Nackenschmerzpatienten Anweisungen zu körperlichem Training erhielt, „(…) trotz einer guten Evidenz für die Wirksamkeit“ ([6], S. 208).
Aus dem ZEIT Interview geht Verschiedenes hervor, weshalb Bewegung zu selten eingesetzt wird. Ein Punkt scheint die Therapiemotivation von Patienten zu betreffen. Der Chirurg sagt: „Bei den Patienten herrscht auch eine extreme Erwartung an die Geschwindigkeit der Therapie. Die sagen: „Ich will nicht auf Dauer Schmerzmittel nehmen oder trainieren.““ [1]. Der Orthopäde sagt: „Außerdem ist heute keiner mehr bereit, etwas für seinen Körper zu tun. (…) Viele Menschen sind nicht ausreichend vorbereitet, für das, was ihr Rücken täglich leisten soll, und warten ab, bis es über sie kommt, statt, wie beim Marathon, einen vernünftigen Plan zu machen um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern“ [1].
Ein weiterer Punkt betrifft die angewendete Therapie. Der Chirurg sagt: „Wir fragen häufig: „Sind Sie schon ausreichend konservativ behandelt worden?“ Die Antwort ist dann oft: „Ja, ich hatte schon hundertmal Krankengymnastik“. Fragt man dann weiter nach, kommt heraus, der hat hundertmal auf der Liege gelegen, und ihm ist der Rücken massiert worden“ [1]. Die Psychosomatikerin beschreibt folgende Situation: „Darauf baut ja auch die ganze Schmerztherapie im Krankenhaus auf. Die erfüllen da den Wunsch des Patienten mit Spritze, Schmerzkatheter und so weiter, und dann soll das Leben weitergehen. Das ist ein Trugschluss. Es nützt nichts, wenn die Muskulatur zu schwach ist. Die Patienten müssen lernen, sich trotz Schmerzen zu aktivieren (…)“ [1].
Wohin in Zukunft?
Was sollte nun passieren, damit Bewegung und körperliches Training mehr zum Einsatz kommen in der Vorbeugung und Behandlung von Rückenschmerzen? Zunächst ist es wohl hilfreich zu erkennen, dass es nicht „nur“ die fehlende Motivation der Patienten ist, die hier als Barriere wirkt. Vielmehr betrifft das auch das Gesundheitswesen, welches an dieser Stelle z. B. unzureichende Therapiepfade und finanzielle Anreize bietet und es betrifft Gesundheitsfachleute, die zu wenig beraten. Letzteres kann wiederum die verschiedensten Gründe haben, wie fehlendes Wissen, fehlende Zeitressourcen, wenig finanzielle Erstattung und fehlende wahrgenommene Wirkungen (u.a. [7,8]). Dann wäre da noch der Austausch zu nennen zwischen Professionen und Disziplinen. Findet er überhaupt statt, und wenn ja, werden die gleichen Messages transportiert (z. B. Schonung oder frühzeitige Bewegung bei akutem Rückenschmerz)?
Das alles schreit nach Lösungen, die übergreifend sind. Gesundheitspolitiker, Berufsverbände verschiedener Professionen und Fachrichtungen, Patientenvertreter, Kostenträger und Einrichtungen des Gesundheitswesens von der Gesundheitsförderung bis zur Pflege müssen hierfür einbezogen werden. Das ist aufwändig. Mit dem Blick auf aktuelle Entwicklungen, wie z. B. die massive Steigerung der Krankenhausaufenthalte wegen Rückenschmerzen zwischen 2006 und 2014 [9], scheint es aber höchste Zeit zu sein, dass etwas passiert!
Referenzen:
- Schöps, C. & Wüstenhagen, C. (2016). Tatort Wirbelsäule. Abgerufen am 11.05.2016 unter http://www.zeit.de/2016/11/rueckenschmerzen-operation-wirbelsaeule-therapie
- Kraus, H. (1948). The role of therapeutic exercises in the treatment of low back pain. N Y State Journal of Medicine, 49(13), 1523-1524.
- Steffens, D., Maher, C.G., Pereira, L.S.M., Stevens, M.L., Oliveira, V.C., Chapple, M., Teixeira-Salmela, L.F., Hancock, M.J. (2016). Prevention of low back pain. A systematic review and meta-analysis. JAMA Intern Med, 176(2), 199-208.
- Bichell, R.E. (2016). Forget the gizmos: Exercise works best for lower-back pain. Abgerufen am 11.05.2016 unter http://www.npr.org/sections/health-shots/2016/01/11/462366361/forget-the-gizmos-exercise-works-best-for-lower-back-pain
- Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz – Langfassung, 1. Auflage. Version 2010, zuletzt verändert: Oktober 2015. Abgerufen am 11.05.2016 unter http://www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinien.de; DOI: 10.6101/AZQ/000250
- Carey, T.S. & Freburger, J.K. (2016). Exercise and the prevention of low back pain. Ready for implementation. JAMA Internal Medicine, 176(2), 208-209.
- VanWormer, J.J., Pronk, N.P. & Kroeninger, G.J. (2009). Clinical counseling for physical activity: Translation of a systematic review into care recommendations. Diabetes Spectrum, 22(1), 48-55.
- Loprinzi, P.D. & Beets, M.W. (2014). Need for increased promotion of physical activity by health care professionals. Preventive Medicine, 69, 75-79.
- Bitzer, E.M., Lehmann, B., Bohm, S. & Priess, H.-W. (2015). Barmer GEK Report Krankenhaus 2015. Berlin: Barmer GEK. Online verfügbar unter http://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2015/150721-Report-Krankenhaus/PDF-Report-Krankenhaus-2015,property=Data.pdf (Abgerufen am 16.05.2016).
(sp)
Für Rückmeldungen, Kritik, Lob, Anregungen zum Text und neuen Themen und alles Weitere: stefan.peters@dvgs.de